Gunther Sehring M.A.
Auszug aus der Rede anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Neu-Isenburg am 25.11.2022
„Kleine Anleitung zum Sehen“ Horst Noll – Malerei
(…) Das über vier Jahrzehnte gewachsene, umfangreiche Werk von Horst Noll beschränkt sich freilich nicht nur auf Malerei, er ist ebenso ein überaus produktiver Zeichner, Grafiker und Illustrator. Doch die Malerei ist sozusagen sein "Branding", sein Steckenpferd – Herz und Motor seines künstlerischen Schaffens.
Um ein eventuelles Missverständnis von vornherein auszuschließen: Als "Farb-Forscher" steht er souverän und mit ganz individuell ausgeprägten Arbeiten in der Tradition der modernen Farbfeldmalerei. Der Begriff des "Farb-Forschers" bezieht sich dabei nicht auf etwaige theoretisch-wissenschaftliche Forschung, sondern allein auf sein praktisches, subjektiv-künstlerisches Ausloten von Farben – ihrer Materie, ihrer Substanz, ihrer Licht-Charaktere sowie ihrer Spannungsverhältnisse mit- und zueinander.
Es ist ein ursächlich freier, experimenteller Ansatz, den der Maler betreibt und der nicht zuletzt den Zufall als willkommenes Geschenk in den Arbeitsprozess integriert. Alle seine Bilder sind Werke, die sich selbst genügen; auch tragen sie generell keine Titel. Kunst und Leben – auch Lebenszeit – verdichten sich im Bild. Inhalt der Malerei ist gewissermaßen die Malerei an sich: Form und Farbe sind identisch.
Zwei Fragen: Was muss Malerei leisten? Antwort: Gar nichts! – Was kann Malerei leisten? Antwort: Alles! Die bildende Kunst war und ist – insbesondere die ungegenständliche Malerei – immer auch eine Vermittlerin des Unaussprechlichen. Insofern wäre es zu viel von mir verlangt, ausgerechnet diese Bilder objektiv begrifflich zu analysieren. Mit klassischer Ikonografie und Ikonologie kommt ein Kunstwissenschaftler hier ohnehin nicht sehr weit... Eher schon, in Bezug auf Bildbetrachtung, mit der ausgeklügelten Methodik und interdisziplinären Formel des Iconic Turn, der sogenannten "ikonischen Wende", die das Verhältnis von Bild und Text, von Sehen und Darüber-Sprechen und -Urteilen neu verhandelt und schließlich sogar nach dem spezifischen visuellen Eigenwert von Flecken, KIecksen, Schlieren oder Farbrändern im Bild fragen darf.
Unbekannt ist dies alles ja nicht: Das Ernst-Nehmen ebenso wie das Für-Wahr-Halten der Autonomie eines abstrakten, ungegenständlichen Gemäldes ist seit über einhundert Jahren der bewährte erste Schritt und Schlüssel zu seinem Verständnis.
Immer aber gilt, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, die Erkenntnis des bekannten Ästhetik-Professors Bazon Brock – selber Künstler, insbesondere Sprachkünstler: "Die materiellen und ausstellbaren Werke werden gewissermaßen zum (integren) Werkzeug; die eigentliche Kunst findet erst im Kopf des Betrachters statt."
Sie merken, eigentlich bin ich schon mitten drin in der Rezeption der Noll'schen Arbeiten, wenn auch noch auf einer theoretisch-grundsätzlichen Ebene.
Ihre besondere Aufmerksamkeit darf ich gleich auf die wunderbaren kleinformatigen Papierarbeiten in den Vitrinen hinter mir lenken. Mit ihnen hat Ende der Achtzigerjahre für Horst Noll vieles schon angefangen, was sich noch in den leuchtenden Aquarellen der letzten beiden Jahre wiederfindet.
Die zuweilen raue, grobporige "Farbhaut", die sich aus einzelnen Acrylfarbschichten aufbaut, wird gerade durch die konstruktiv wirkenden Negativformen – abgelöste Ein- oder Abklebungen mittels Klebestreifen – in ihrer stofflichen Materialität erlebbar: Es sind fast schon tektonisch-architektonisch zu benennende Einschübe und Gefüge – ich habe sie einmal als "optische Anker" bezeichnet –, die quasi das Nahe mit dem Fernen verbinden Farbraumfelder und -schichten entschlüsseln und somit das nach und nach Gewachsene des Bildes verdeutlichen. – Dass damit zugleich auch oft das traditionelle Geviert des Bildträgers regelrecht gesprengt wird (... Papiere reißen während des spontanen Arbeitsprozesses nun mal ein oder ab, so dass das Format gleichsam "offen" bleibt), ist nicht zuletzt dem fragmentarischen Charakter dieser frühen Arbeiten geschuldet, der ihren ganz eigenen Reiz ausmacht.
Ich möchte meine Rede über Malerei im Allgemeinen und die von Horst Noll im Besonderen abschließen mit einem Zitat des französischen Dichters Jean Tardieu ("Mein imaginäres Museum), das schlussendlich noch einmal die Diskrepanz zwischen begrifflicher Sprache einerseits und malerischer Sprache andererseits auf den Punkt bringt.
Ich zitiere: "Ich als Maler würde einen unnützen Inhalt – ob man ihn Objekt oder Subjekt oder Darstellung (...) nennt – unterdrücken. Ich würde Worte in einer Schrift schreiben, die nur mir allein bekannt ist. Ich würde 'Briefe' schreiben, wem ich will. Ich würde allen Dingen schreiben, lebenden und unbeseelten Wesen, Menschen wie Tieren, Sternen wie Flüssen - die Buchstaben der Leidenschaft, in einer unbekannten Sprache." (…)